Vorlage:Mephisto Vancouver

aus Schachcomputer.info Wiki, der freien Schachcomputer-Wissensdatenbank

Mehr Wissen mehr Macht

Ein erster Blick auf den neuen Mephisto Vancouver

(von Frederic Friedel (aus Computer Schach & Spiele / Heft 5 / Oktober-November 1991)

Trotz des enttäuschenden dritten Platzes bei der 11. Mikro-WM wollte die Firma Hegener+Glaser das Jahr '91 nicht verstreichen lassen, ohne eine Stadt dieser Welt mit dem Namen ihres Spitzenprogramms zu beehren. Wer möchte, kann nun ab Mitte Oktober seinen Lyon oder Portorose in einen funkelnagelneuen Mephisto Vancouver verwandeln.

In der offenen Gruppe der Mikrocomputer-Weltmeisterschaft hatte die siegesgewohnte Mephisto-Mannschaft im Mai dieses Jahres das Nachsehen: Die RISC-bestückte ChessMachine und das auf einem 486er-Computer laufende M-Chess verdrängten das nur leicht verbesserte Lyon-Programm vom Siegespodest. Aber noch war das Jahr jung, noch war Vancouver nicht verloren.

Ergebnis der Krisensitzung bei H+G: Man beschloss, auf das gleiche Pferd zu setzen, und bat den Engländer Richard Lang, zum Herbst 1991 eine neue Programmversion zu entwickeln. Allerdings wurde ihm ein neuer Partner an die Seite gestellt. Nicht der seit Jahren zum „bewährten Mephisto-Team" gehörende Ossi Weiner wurde beauftragt, Richard bei der Entwicklungsarbeit zu unterstützen, sondern der hausinterne Computerschach-Experte Jeroen Noomen. Der seit Anfang 1990 bei H+G in München tätige holländische Ligaspieler (Elo ca. 2150) sollte vor allem das schachliche Know-how beisteuern, um weitere Rating-Punkte aus dem Mephisto herauszukitzeln.

Noomen est omen

Mit dem Segen des Vorstandes ging Noomen flott ans Werk. Zunächst einmal wurde die alte Mephisto-Bibliothek um glatte 50% erweitert - auf satte 150.000 Züge in 17.000 Varianten. Als exzellenter Theoretiker und versierter ChessBase-Anwender fügte Noomen dem (nicht nur) seines Erachtens viel zu spezialisierten Repertoire der alten Mephistos viele neue, zum Teil ultrascharfe Varianten hinzu. Eine Auswahl:

  • Russisch: Cochrane-Gambit (4.Sxf7).
  • Lettisches Gambit.
  • Budapester Gambit, Froms Gambit (als Schwarzer).
  • Sizilianisch Najdorf: Vergifteter Bauer, moderne Abweichungen der Hauptvariante (7...Dc7, 7...Sc6, 7...Sbd7), Browne-System, 6.Le2.
  • Sizilianisch Drachenvariante: System ohne Lc4.
  • Sizilianisch Rauser-Variante, Paulsen-Variante, Morra- und Flügelgambit.
  • Spanisch: Marshall-Gambit und Anti-Marshall; Offener Spanier: Dilworth-Variante.
  • Damengambit: Wiener Variante
  • Tartakower mit Ld3.
  • Nimzo-Indisch: 4.Dc2.
  • Königsindisch: Hauptvariante mit Sd2.

Damit die Fetzen fliegen! Um bei diesem gewaltigen Eröffnungswissen trotzdem den unterschiedlichen Bedürfnissen der Anwender Rechnung zu tragen, hat man nun für die Bibliothek neben der Standard-Einstellung „NORMAL" auch die Einstellungen „MENSCH", „GAMBIT", „KLASS.", „MODERN" und „BLITZ" zur Auswahl. Eine Erläuterung erübrigt sich. Jede Bibliothek hat eine „TURN"- und eine „zuFALL"-Einstellung, so dass man unter insgesamt zwölf verschiedenen Möglichkeiten wählen kann.

Es handelt sich nicht um einen abrupten Themenwechsel, wenn wir an dieser Stelle eine Partie vorführen:

Programmierung gefällig?

Wer einen kleinen Einstieg in die Programmierung wagen will, kann auch weitere Parameter verstellen. Für die Selektivität gibt man Werte zwischen Null und 12 Halbzügen ein - Default ist 12. Endlich kann man nun auch die Figurenwerte einzeln verstellen: Dame, Turm, Läufer, Springer, Bauer und Bauernstrukturen. Die Werte sind zwischen 50% und 150% variierbar. Es leuchtet ein, dass man damit die Möglichkeit hat, bei der Bewältigung von „unlösbaren" Aufgaben von außen her zu assistieren. Wenn der Vancouver eine Stellung partout nicht bewältigen kann (kommt selten genug vor), so kann Herrchen nach weiser schachlicher Beschau dem Programm flüstern, dass hier der Springer viel wertvoller ist als der eingekesselte Läufer, den es - wahrscheinlich auf Kosten des Gewinns - mit allen Mitteln verteidigen wollte.

Weiter geht's mit der „Programmierung" - einiges allerdings schon beim Lyon dagewesen: SPRACHE (jetzt DEUTSCH, ENGLISH, FRANCAIS, ITALIANO und NEDERLANDS); HASH (-Tables ein/aus); STIL (AKTIV, RISIKO, SOLID); und REM.FAKT (auch Geringschätzungsfaktor genannt). Hier teilt man dem Rechner mit, bei welchem Vor- oder Nachteil er ins Remis einlenken soll: erst ab -0.75 Bauerneinheiten bei einem Patzer, oder schon mit +0.75, wenn der Gegner einen GM-Titel trägt. Die Tüftler unter den Mephisto-Kunden werden über Langeweile bestimmt nicht zu klagen haben.

Solche Bedienungs-Feinheiten interessieren indes eine ganze Reihe von Anwendern nur in zweiter Linie. Für sie gibt es nur die eine wirklich brennende Frage: Ist er nun stärker geworden oder nicht? Leider haben wir in der Kürze der Zeit keine systematische Recherche zu diesem Thema durchführen können. Das Eprom (übrigens jetzt 256 KB statt der 128 KB beim Lyon) schickte uns Richard Lang zwei Wochen vor Redaktionsschluss per Express aus England. Immerhin war es möglich, einige Experimente mit einem sehr starken Spieler (siehe Bericht über Fritz), und einige mit einem Klubmeister durchzuführen. Und da gibt es noch den Bednorz-Tönissen Test... Aber gehen wir der Reihe nach vor.

Der starke Klubspieler hatte sich kampfeslustig angeboten, dem Vancouver zu zeigen, wo's langgeht. Nur: Es ging leider doch nicht dort lang. Nach dem Kurztest bat er uns, seinen Namen nicht im Bericht zu erwähnen. Alle drei Partien wurden mit 40 Zügen in zwei Stunden gespielt, keine der „Fabrikeinstellungen" des Geräts wurde vor den Partien geändert.

Mit 2665 Sachen gegen den Mephisto

Man sieht, dass auch ein recht erfahrener Spieler auf keinen Fall mit Hochmut oder Geringschätzung gegen den Vancouver antreten sollte - das darf höchstens jemand, der im Schweiße seines Angesichts 2665 Elo-Punkte erworben und es nun nicht mehr nötig hat, sich der Sache respektvoll zu nähern.

Mit diesem und anderen ähnlich frechen „Gambits" setzte sich der Super-GM laufend gegen den Mephisto durch. Auf der anderen Seite verbrachte er viele nächtliche Stunden damit, das gleiche mit Damenvorgabe (Dh5, Dxf7) zu versuchen - vergebens. Genug ist genug, Freundchen, hörte man förmlich aus den Schaltkreisen summen. Zum Schluss hatte der Vancouver immer den vollen Punkt. Damit es nicht bei solchen Anekdoten bleibt, haben wir noch Herrn Hubert Bednorz gebeten, sein Wochenende für die Durchführung des BT-2450-Tests mit dem Vancouver zu opfern. Seine per Fax übermittelten Ergebnisse (für Vancouver 32-Bit, 68020) waren wie folgt:

01. ----   11. 2.15   21. 1.30
02. 1.03   12. ----   22. 0.39
03. 0.06   13. 0.09   23. 0.01
04. ----   14. 2.37   24. ----
05. ----   15. 0.01   25. 3.45
06. 0.35   16. 0.09   26. ----
07. 0.06   17. 0.21   27. ----
08. 0.10   18. 1.10   28. 0.02
09. ----   19. 1.32   29. ----
10. 14.00  20. ----   30. 4.33

Gesamtzeit = 184,73 min., BT-Zahl = 2081, Ingo = 95. Das hört sich nicht gewaltig an, und liegt nur ganz wenig über dem Niveau des Lyon 68020 (BT = 2076). Aber einige Stellungen lassen nach Meinung von Herrn Bednorz aufhorchen. So wird beispielsweise die Stellung BT-25 in 3 min 45 s gegenüber 1 h 4 min für den Lyon gelöst. Er gab uns eine Reihe weiterer Stellungen und Zeiten, von denen vielleicht die nachfolgende am eindrucksvollsten ist:

Leser-Teststellung CSS 6/89, S.8


Der Lyon brauchte 1 h 07 min, um hier das gewinnbringende 1.Txc7! 1-0 zu finden, der neueste Spross aus dem Hause H+G dagegen nur 8 min 45 s.

Botwinniks Teststellung gelöst

Seit mehr als 15 Jahren prüft der Exweltmeister Prof. Mikhail Botwinnik die Fortschritte seines Schachprogramms Pionier anhand einer schwierigen Studie:


Mit Hilfe von hochspezifischem Schachwissen erzeugt Pionier einen Suchbaum, der mit nur einigen hundert Stellungen zur Lösung gelangt: 1.g6 Kf6 2.g7 Lh7. Das ist die kritische Stellung, um die es geht. „Normale” Schachprogramme spielen bieder (und naheliegend) 3.Kxh7 sn 4.g8D SO+ 5.Kh6 St7+ 6.Kh7 Sg5+ 7.Kh8 S17+ und remis; oder 5.Dxg5+ Kxg5 6.h6 c4 7.Kg8 c3 8.h7 c2 9.h8D c I D remis. Nur Botwinniks Programm war bislang imstande, den Gewinnzug zu finden: 3.e4!! Sf3 4.e5+ SxeS 5.Kxh7 Sf7 6.g8-13 Sg5+ 7.Dxg5+ Kxg5 8.h6 c4 9.Kg7 c3 10.117 c2 11.h8D cID 12.1)116+ Kf5 13.Dxcl 1-0.

Der Mephisto Vancouver 68020 findet auch ohne die Spezialkenntnisse von Pionier den kritischen Zug 3.e4 in nur 24 Minuten und 30 Sekunden. Man sieht, dass auch mit Brute Force und ein wenig allgemeinem Schachwissen, das auch für normale Partien dienlich ist, man es ziemlich weit bringen kann.

Verbesserungen im Spielteil

Wir haben Richard Lang und Jeroen Noomen direkt zu den Programmverbesserungen befragt. Sie gaben über Programminterna und Fehler bereitwillig Auskunft und lieferten konkrete Beispiele für die Fortschritte im Spielteil. So war z.B. bekannt, dass der Lyon in der Eröffnungsphase ungenügend auf Zentrumskontrolle achtet: Ohne Bibliothek spielt das Programm nach 1.d4 Sf6 2.c4 fragwürdig 2...Sc6. Unter gleichen Voraussetzungen spielt der Vancouver nun 2...d6 und versucht nachfolgend mit e7-e5 einen Bauern ins Zentrum zu bekommen. Ein anderes Beispiel: In Van der Wiel - Lyon 68030 beim AEGON-Turnier zog das Programm nach 1.c3 e5 2.d4 exd4 3.cxd4 Sf6 4.Sc3 völlig antipositionell 4...Lb4 5.Lg5 h6 6.Lh4 g5? und verlor schnell die Partie. Mit Hilfe von neuen algorithmischen Anweisungen spielt Vancouver jetzt logischer 4...d5. Ferner wurden unmotivierte Damenzüge in der Eröffnung (meist Dd3) dem Programm ausgeredet.

Auch bei der Königssicherheit gibt es offensichtlich weitere Verbesserungen, wie die folgende trojanische Stellung gut belegt:


Der CSS-Lyon 68020 tappte noch ahnungslos mit 1...hxg5? 2.hxg5 g6 3.Dg4 in die Todesfalle. Der Vancouver lässt sich auf keine Mätzchen ein und spielt defensiv 1...Sc6!

Fazit

Der Mephisto Vancouver hat eine Reihe von neuen Features und eine sehr breite, abwechslungsreiche und zum Teil recht scharfe Eröffnungsbibliothek erhalten. An den Spielalgorithmen hat Richard Lang kleine chirurgische Eingriffe vorgenommen und das ohnehin gewaltige Wissen des Programms weiter vertieft. Das führt allerdings nicht dazu, dass eine dramatische Steigerung der Spielstärke feststellbar wäre - was auf diesem Niveau auch kaum verwunderlich ist. Wir schätzen, dass in den diversen Elo und Testlisten alsbald der Vancouver 68030 sich zusammen mit The King, ChessMachine und dem Lyon 68030 die obersten vier Plätze teilen wird.